Der Preis der Leipziger Buchmesse wurde zum 12. Mal vergeben und ehrt herausragende Neuerscheinungen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung. Der Preis der Leipziger Buchmesse ist mit 60.000 Euro dotiert. Die Preisträger 2016 sind Brigitte Döbert, Jürgen Goldstein und Guntram Vesper.
Guntram Vespers Roman "Frohburg" gehört zu den Büchern, bei denen man leicht, ganz schnell, auf die großen Begriffe kommt. Opus magnum. Mammutwerk. Solche Wendungen. Schließlich breitet Guntram Vesper eine umfangreiche Geschichtslandschaft vor uns aus, die von der Gegenwart aus die alte Bundesrepublik, die DDR natürlich, die Nazizeit umfasst und weit in die Geschichte Deutschlands zurückbindet, bis dahin, wohin nur noch die Geschichtsbücher reichen.
Es lohnt sich aber, bei diesem Roman nicht nur den großen Bau zu sehen, sondern auf die Ebene der Details zu gehen, die Ebene der einzelnen Sätze. Die Sätze in diesem Buch sind lang, oft bringen sie gleich mehrere Perspektiven zusammen, und sie sind stets konkret, geatmet, nah dran an der Mündlichkeit. Insgesamt folgen sie dabei einer Ästhetik des Verknüpfens. Man spürt beim Lesen manchmal gar nicht, wie gleitend diese Sätze einen durch die Zeiten und Geschichten, Namen und Schauplätze tragen.
Und genauso folgt der Roman auch auf der größeren Ebene dieser Ästhetik des Verknüpfens. Die große Geschichte – Weltkrieg, Einmarsch der Roten Armee, DDR-Alltag, auch Alltag des bundesrepublikanischen Literaturbetriebs – wird mit dem Kleinen, der Geschichte Frohburgs und der eigenen Familiengeschichte verknüpft.
Wovon dieser Roman handelt, das ist letztendlich immer auch die Übermacht von Geschichte, Kriege, Systeme, historischer Wandel, der über die konkreten einzelnen Menschen hinwegrollt. Diese Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist in dem Buch aufbewahrt, und zwar – und das ist wichtig – ohne aus den sogenannten kleinen Leuten Helden zu machen. Der Roman handelt aber auch von dem Erzähler, dem Verknüpfer, den Guntram Vesper der Übermacht an Geschichte entgegenhält. Auch der Erzähler hat, bei all seinem Können, nichts Heldisches, er ist ein, wie man bei diesem lebenssatten Buch mit Erstaunen immer wieder feststellen kann, erstaunlich junger, immer wieder von sich selbst überraschter Erzähler. Man glaubt ihm gern, dass seine Erzählungen wahr sind.
Guntram Vesper, 1941 in Frohburg geboren, lebt und arbeitet als freier Autor in Göttingen. Sein Lyrikdebüt "Fahrplan" erschien 1964. Neben Gedichten verfasste er vor allem Hörspiele und Erzählungen. Er wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet, u. a. mit dem Peter-Huchel-Preis 1985. 2006 erhielt er die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung.
Der Entdecker, Zeichner, Schriftsteller, Übersetzer und Revolutionär Georg Forster, der an James Cooks zweiter Weltumseglung teilnahm und 1793 die Mainzer Republik ausrief, hat die Leser mit seiner "Reise um die Welt" betört. Jürgen Goldstein ist offenbar bei ihm in die Lehre gegangen. Seine Prosa ist anschaulich und unaufgeregt. Auf wunderbare Weise findet er genau das richtige Maß, sehr fein tariert er das Verhältnis von Originalzitaten und Deutung aus. Entschlossen tritt er hinter seinen Gegenstand zurück, der dadurch umso besser zur Geltung kommt.
"Zwischen Freiheit und Naturgewalt" heißt das Buch im Untertitel. Es lässt jene kurze Episode des Globalisierungsprozesses aufleuchten, als Entdeckungen noch Verheißungen waren, noch nicht auf der Kippe, um in Verlustgeschichte umzuschlagen.
Auch Georg Forsters Leben endete mit einer Verlusterfahrung. Jürgen Goldstein fängt sie durch geschickte Montage wie ein Prisma ein. Die Tragik dieses politischen Naturschwärmers hat nichts Heroisches, sie wird gestreift von einer Art Sanftmut und Schicksalsergebenheit. Als leidenschaftlicher Jakobiner sitzt er am Ende seines Lebens allein in Paris und sieht durch die Jakobinische Schreckensherrschaft all seine Hoffnungen zerstört. Noch einmal versucht er, die Revolution als Naturereignis zu legitimieren, das sich – wie der Ausbruch eines Vulkans – nicht aufhalten lässt. In einem Brief an seine längst die Scheidung betreibende Frau schreibt er wahrheitsgemäß: "Aus der Ferne sieht alles anders aus, als man es bei näherer Betrachtung findet."
Jürgen Goldsteins Forster-Buch ist mehr als eine Biografie. Es liest sich wie der Abenteuerroman eines Lebens, voller Erkenntnisse, die bis heute gültig sind.
Jürgen Goldstein, geboren 1962 in Beckum, lehrt als Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Aspekte der Politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, die Konstitution der neuzeitlichen Subjektivität und Rationalität, u.a. bei Hans Blumenberg und Descartes, sowie die Geschichte der Naturwahrnehmung. 2013 erschien "Die Entdeckung der Natur" bei Matthes & Seitz Berlin. Für "Georg Forster" erhielt er im Herbst 2015 den Gleim-Literaturpreis.
Unübersetzbar: Es gibt Bücher, denen dieser Ruf vorauseilt, als wäre es ihr Schicksal. Ein trauriges Schicksal, denn es würde bedeuten, dass es aus der Sprache seines Ursprungs nicht heraus kann, und ein umso traurigeres, wenn diese Sprache nicht groß ist. Aber manche Übersetzer und Übersetzerinnen fühlen sich gerade durch solche 8000er der Literatur herausgefordert. So erging es offenbar auch Brigitte Döbert, die das Opus magnum des serbischen Autors Bora Ćosić ins Deutsche gebracht hat: Die Tutoren. Es ist ein Buch, das fünf Generationen, 150 Jahre und eine unglaubliche Menge von Personal umfasst.
Brigitte Döbert hat viel Zeit und Herzblut in dieses Projekt gesteckt, sie hat recherchiert, wie es so flächendeckend erst heute, im Zeitalter des Internets, geht, um noch den obskursten Anspielungen nachzuspüren, und für jede Nuance den eigenen Ton gefunden. Außer von der Pflicht zur Genauigkeit hat sie sich auch von jener Kühnheit leiten lassen, die man braucht, wenn man dem weit entfernten Fremden in der neuen Sprache eine Heimat schaffen will.
Brigitte Döbert, geboren 1959 in Offenbach am Main, ist freiberufliche Lektorin, Autorin und Literaturübersetzerin aus dem Bosnischen, Englischen, Kroatischen und Serbischen. Sie übersetzt neben Bora Ćosić u. a. Dževad Karahasan, Roman Simić, Dragan Velikić und Miljenko Jergović. Döbert hat zahlreiche Stipendien erhalten, darunter das Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds. 2012 war sie für den Brücke-Berlin-Preis nominiert. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Über den Preis der Leipziger Buchmesse
Der mit 60.000 Euro dotierte Preis der Leipziger Buchmesse wurde in diesem Jahr zum 12. Mal vergeben und ehrt herausragende Neuerscheinungen in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung. Die Preisverleihung fand am ersten Messetag, 17. März, in der Glashalle der Leipziger Messe statt. Der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig unterstützen den Preis der Leipziger Buchmesse. Partner des Preises ist das Literarische Colloquium Berlin (LCB) – Medienpartner das Magazin buchjournal und Deutschlandradio.
Über die Leipziger Buchmesse
Die Leipziger Buchmesse ist der wichtigste Frühjahrstreff der Buch- und Medienbranche und versteht sich als Messe für Leser, Autoren und Verlage. Sie präsentiert die Neuerscheinungen des Frühjahrs, aktuelle Themen und Trends und zeigt neben junger deutschsprachiger Literatur auch Neues aus Mittel- und Osteuropa. Durch die einzigartige Verbindung von Messe und "Leipzig liest" – dem größten europäischen Lesefest – hat sich die Buchmesse zu einem Publikumsmagneten entwickelt. Die Leipziger Buchmesse 2016 findet vom 17. bis 20. März auf dem Leipziger Messegelände sowie im gesamten Stadtgebiet statt. Vertreten sind 2.250 Aussteller aus 42 Ländern. An den vier Messetagen werden über 250.000 Besucher und mehr als 2.500 Journalisten erwartet. Parallel zur Leipziger Buchmesse findet die 21. Leipziger Antiquariatsmesse statt.
Quelle:
Leipziger Buchmesse
Links:
Guntram Vesper: Frohburg
Jürgen Goldstein: Georg Forster, Zwischen Freiheit und Naturgewalt
Bora Cosic: Die Tutoren, Übersetzung Brigitte Döbert
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